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Dokumentation "Girl Gang" ist das oft bedrückende Porträt einer Jugend im Ringlichtschein

Die Bilder, mit denen der Film Girl Gang beginnt, könnten gut aus den Neunzigern stammen. Vor einem Absperrband drängen sich Hunderte aufgeregter Mädchen, die Augen erwartungsvoll, manche von Tränen verschleiert. Noch ist die Bühne leer. Trotzdem laufen einige Kinder Gefahr, in der Masse ohnmächtig zu werden, und die angerückte Polizei droht damit, alles abzubrechen, bevor der Star der Stunde auch nur einen Fuß auf diese Bühne gesetzt hat. Man würde sofort an Auftritte der Backstreet Boys denken, oder an Take That, hielten die Mädchen keine Smartphones in den Händen. Ihretwegen lässt sich das Geschehen im Heute verorten, ihretwegen sind die Kinder überhaupt in dieses Einkaufszentrum gepilgert. Ohne die Apps auf den Smartphones würde die 14-jährige Leonie Balys, die nervös und in metallisch glänzender High-Waist-Hose im Backstagebereich wartet, von den Mädchen nicht herbeigesehnt werden wie ein Popstar.

 

Leonie, die sich bei Instagram und TikTok Leoo Balys nennt, steht im Zentrum eines neuen Dokumentarfilms von Susanne Regina Meures, der einiges über die Gegenwart erzählt. Spuren herkömmlicher Popstarqualitäten lassen sich höchstens in Leonies Arbeitsmoral finden, dazu ist sie nur bedingt das, was man sich als älterer Mensch unter einem gewöhnlichen Teenager vorstellt: Zum Zeitpunkt des beschriebenen Auftritts folgen ihr 500.000 Menschen in den sozialen Medien, hinein in weit entfernte Einkaufszentren oder auf Beautymessen. Damit ist Leonie auf dem besten Weg, eine erfolgreiche Influencerin zu werden. Unternehmen bezahlen dafür, dass sie Make-up oder Schuhe auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen so einbettet, dass es möglichst nicht nach dem aussieht, was es eigentlich ist: Werbung. Gleichaltrige konsumieren ihren Content. Aus Interesse, aber auch, weil die Apps dafür sorgen.

 

Diese Vermengung von Geschäftsinteressen mit sogenannter Authentizität dürfte auch denen bekannt sein, die noch vor dem Fernseher groß geworden sind. Nicht nur Jugendliche nutzen schließlich Instagram. Aber Girl Gang zeigt mehr. Zum Beispiel, wie der pausenlose Appell zum Konsum allen Beteiligten kaum Ruhe lässt. Und dass ein ohnehin problematisches Geschäftsmodell umso bedenklicher wird, wenn eine Influencerin 14 Jahre alt ist und minderjährige peers in einer zeitgemäßen Form der Dauerwerbesendung an dem teilhaben lässt, was vor allem jungen Frauen noch immer als begehrenswert präsentiert wird. "Von allen Mädchen auf Instagram war sie die Schönste, die Lustigste", sagt Melanie im Film über ihr Idol. Sie ist so etwas wie Leonies treueste Followerin. Eine Jugendliche, die nach Vorbildern und Freundinnen sucht – und sie in Influencerinnen wie Leoo zu finden hofft.

Leonie selbst ist hauptberuflich Schülerin und wohnt zu dem Zeitpunkt, als Susanne Regina Meures sie zu filmen beginnt, bei ihren Eltern Andreas und Sani. Vier Jahre lang hat die Regisseurin, die 2016 durch die Dokumentation Raving Iran bekannt wurde, die Familie begleitet. In Girl Gang zeigt sie den Alltag eines Mädchens, der sich von Jugendzimmer und Fußballplatz zunehmend ins Ringlicht verlagert. Statt Freundschaften werden Accounts gepflegt. Irgendwann wird Leoo 1,6 Millionen Follower auf Instagram haben. Zum Vergleich: Klimaaktivistin Luisa Neubauer folgen dort knapp 380.000 Leute, Popsängerin Lena Meyer-Landrut fünf Millionen.

 

Als Zuschauerin verfolgt man das Geschehen in Girl Gang zunehmend bedrückt: Melanie, Leoos Fan, berichtet von ihrer Screentime, die auf zwölf Stunden gesunken sei. Leonie trifft einen Social-Media-Manager zum Beratungsgespräch, das der Mann noch mit dem Hinweis versieht, jetzt bitte nichts persönlich zu nehmen: "Du musst authentischer werden, das fehlt dir komplett." Er äfft Leonies Ton aus ihren Videos nach und befindet anschließend, sie sei in ihrer Community "die Schwächste". Heidi Klum hätte solche giftigen Sätze in Germany's Next Topmodel zumindest mit einem Lächeln versehen.

Viele Menschen haben ein Interesse daran, dass Leonie liefert. Wie lange die heute Volljährige dazu selbst noch bereit ist, bleibt unklar. Bislang beantwortet sie ihren Followerinnen auf Instagram bereitwillig Fragen wie diese: "Mit welchem Content hätte man als Newcomerin am meisten Erfolg? Cooking, Living, Mode?" Vielleicht war der Neunzigerjahrevergleich zu Beginn etwas optimistisch: Die Fünfziger liegen doch näher.

"Girl Gang" von Susanne Regina Meures läuft in deutschen Kinos.
 

 

Quelle: Katharina Böhm, Die Zeit, 21. Oktober 2022

 

 

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Veröffentlichung

Di, 01. November 2022

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